Montag, 8. Februar 2010

Warum Heldinnen nie Leistungsträger werden

Mein Beitrag zur Heldendiskussion auf Freitag.de, außerdem Gedanken zu Integration, Chancengleichheit und Grundeikommen und nicht zuletzt eine persönliche Liebesgeschichte an das wahre Leben

Konzentriert schauen die großen braunen Augen mich an, man sieht förmlich die gedankliche Anstrengung dahinter. Sie würde endlos weiterreden, wenn jemand zuhören würde. Das Interesse an ihren philosophischen Gedanken ist aber bei ihren Brüdern, Eltern, und den ganzen furchtbar kompliziert mit ihr verwandten Erwachsenen eher gering. Fragen über Fragen. „Was passiert, wenn überall Feuer ist?“ „In welchem Laden gibt es Wände für Häuser?“ „Was ist, wenn unter der Erde kein Platz mehr ist für Tote?“ Sie hat unglaubliche Entwicklungsschritte gemacht. „Als alle Menschen Babys waren, wo waren da die Mamas?“ Das war erst vor ein paar Monaten, jetzt ist das längst geklärt. Leider hat sie aber inzwischen auch einiges wieder vergessen: Neuerdings besteht sie darauf, dass nach der Drei die Sieben kommt, dabei waren wir nach einigem Training schon fehlerfrei bei zwölf. Das Zählen in einen Zusammenhang mit ihrem Alter zu bringen, liegt ihr immer noch fern, letzteres drückt sich schließlich in Fingern aus.
Ich denke darüber nach, wie unfassbar viel dieser kleine Mensch in den letzten Jahren geleistet hat. Wie sie sich mit zwei Jahren die meiste Zeit versteckte, viel weinte und kaum ein Wort sprach, völlig verloren zwischen den ganzen Großen. Wie sie mit fast vier anfing, mich gerne zu besuchen, sich aber nicht die Bohne für das von mir beschaffte Spielzeug interessierte. Statt dessen durchsuchte sie meine Schubladen und probierte meine hochhackigen Schuhe an. Als sie vier war, beschloss ich, dass es reichte und verbot ihr die Schubladen. In der folgenden Zeit langweilte sie sich meist bei mir, Bücher, Malsachen und Puzzles konnten sie nur bei der Stange halten, wenn ich neben ihr saß und sie ermutigte. Ein Jahr später sieht das völlig anders aus. Stundenlang sitzt sie auf dem Teppich und malt, klebt, philosophiert. Nur manchmal muss ich sie daran erinnern, dass ich gerne gefragt werde, bevor ihre Kunstwerke an meinen Schrank geklebt werden. Denn irgendwas haben diese Spielsachen, Geschenke und Bilder an sich, dass sie mein Zimmer nicht verlassen wollen. Ich habe es selber probiert, der Familie Spielzeug gebracht. Nach kürzester Zeit war es verschwunden, kaputt und entsorgt, von den Jungs in Besitz genommen oder zu gut aufgeräumt von Mama. Deshalb hat sie gelernt, wertvolle Dinge bei mir zu lassen.
Am meisten bewundere ich, dass sie unverdrossen weiter die Welt erkundet, obwohl sie so oft zurückgewiesen wird. Obwohl sie etwas an sich zu haben scheint, was ihre Mutter zum Schimpfen bringt, wenn sie etwas fragt. Obwohl sie auch von mir einiges einzustecken hat, etwa wenn sie beim Einkaufen sagt: Kauf mir das! (Die Lösung sah vor dem nächsten Einkaufen so aus: „Wir gehen da jetzt rein und wenn du was haben willst sagst du nicht ,Das musst du mir jetzt kaufen.´ sonst werde ich sauer!“ - „Ok. Und was soll ich dann sagen?“ - „Dann sagst du ,Kannst du mir das bitte kaufen?´und wenn ich ,nein´sage, sagst du ,ok´.“ - „Ok.“) Und obwohl sie ein kleine Schwester hat, die von Beruf Prinzessin ist und durch Schreien alles bekommt, ohne je Widerspruch zu ernten.
Ich frage mich, welche Leistungen dieses kleine Wesen, das so stark ist, einmal für die Gesellschaft tragen wird. Ob ihr jemand erzählen wird, dass sie aufsteigen kann, wenn sie nur will. Ob sie an den Anforderungen dieser Gesellschaft zerbrechen wird.
Haben die sogenannten Leistungsträger, die selbstverständlich davon ausgehen, ihre Position aus eigener Anstrengung erreicht zu haben, mal eine Sekunde über ihre Voraussetzungen nachgedacht?
Ist es ein persönliches Versäumnis dieses Kindes, dass seine Eltern aus einer Minderheit stammen, die in ihrem Herkunftsland verfolgt wird? Dass ihre Eltern, traumatisiert nach dem Tod von eigenen Kindern die Flucht ergriffen und in einem Land landeten, in dem ihre Werte nichts zählen? Dass ihre Minderheit jahrhundertelang Schulen mied, um ihre kulturelle Identität zu bewahren und es ihnen auch deshalb schwer fällt, zu erkennen, dass ihre Kinder hier nur mit Schulbildung überleben können? Dass sie Eltern hat, die mit ihren Voraussetzungen hier auch Schwierigkeiten hätten, selbst wenn sie Deutsch könnten. Dass ihr Vater, in der Heimat ein angesehener Mann, mit Land und Arbeitskräften aber ohne Bildung hier nichts zählt. Dass er, über 50 und herzkrank, vom Arbeitsamt zum Computerkurs statt zum Deutschkurs geschickt wird. Dass es bei uns keine Grundsicherung für Kinder gibt und es deshalb für Eltern mit vielen Kindern und ohne Qualifikation kaum möglich ist, ihre Familie selber zu ernähren.
Und ich frage mich, ob deutsche Familien mit geringem Bildungsniveau, wenn sie plötzlich ihren Arbeitsplatz und ihr Umfeld verlieren würden, sich in einer völlig anderen Kultur auf einem anderen Kontinent vorbildlich integrieren würden.
Ich frage mich, was das für ein Land ist, in dem man steigende Arbeitslosenzahlen auf steigende Faulheit zurückführt. Und in dem kein Platz mehr ist, für Menschen, die durch einfache Arbeit für sich und ihre Familie sorgen wollen.
Das erinnert mich an die Argumentation aus dem Film über das Grundeinkommen: Heute kann niemand mehr für sich selber sorgen. Jeder arbeitet für andere und nimmt die Arbeit anderer in Anspruch. Die Arbeit von einigen wird aber nicht mehr gebraucht und sie können deshalb auch kaum Leistungen in Anspruch nehmen. Im Film kam ein Vorschlag aus früheren Zeiten vor, jedem ein kleines Stück Land zur eigenen Versorgung zu geben. Die moderne Form wäre das Grundeinkommen.
Das würde Eltern wie diesen eine große Last von den Schultern nehmen und dennoch würde es Kinder wie diese nicht dazu befähigen, sich im deutschen Schul- und Ausbildungssystem zu behaupten (was natürlich weniger relevant wäre, wenn sie nicht auf Arbeit angewiesen wären). Ganz vielleicht würde es auch mehr Nachbarn dazu bringen, so verrückte Dinge zu tun wie ich. Allerdings beschleicht mich der Verdacht, dass es nicht genügend wären, damit alle sich hier zu Hause fühlen können. Und mein Bauchgefühl findet, dass es auch mit Grundeinkommen, nicht richtig ist, wenn ein Teil der Gesellschaft vermittelt bekommt, dass seine Arbeitskraft nicht gebraucht wird und befürchtet, dass die Zuverdienstmöglichkeiten immer noch erheblich von den persönlichen Voraussetzungen abhängen.
Bleiben also genug Fragen, nicht nur für fünfjährige Philosophinnen.

Dieser Beitrag wurde ebenfalls in meinem Blog auf Freitag.de veröffentlicht.